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Wenn Kolkraben kräftig krächzen, Teil 2

Jörn Kaufhold / Slowakei / März 2017

Wieder eine Rabengeschichte, wieder während einer Veranstaltung für die Slovak Wildlife Society, diesmal mit Studierenden der University of Wolverhampton, Fachrichtung Animal Behavior and Wildlife Conservation. Eine Woche habe ich Studierende in die alte Kunst des Fährtenlesens eingeführt und mit ihnen Losungen von Luchs und Wolf eingesammelt zwecks genetischer Analyse.

Am letzten Tag veranstalte ich für einige Studierenden eine Art Spurenlesetest, wo sie selbst rausfinden können, was sie in dieser Woche gelernt haben. Im Prinzip verläuft er so, dass ich einzelne Spuren finde, einkreise und dazu eine oder mehrere Fragen stelle, die jeder dann für sich beantworten muss. Danach besprechen wir die Ergebnisse und schauen, was es zu lernen gibt.

Wir sind gerade bei der 5. Station, als wir einen Raben krächzen hören. Rund 100 Meter westlich von uns, auf einer Anhöhe, gut mit bloßen Augen als Schattenriss gegen den Horizont erkennbar, sitzt ein Rabe auf der Spitze einer abgestorbenen Fichte und krächzt, dabei stößt sein Schnabel ruckartig nach unten, die Schnabelspitze fast senkrecht nach unten gerichtet. Das Ganze dauert mehr als eine Minute.

Mit Hans, meinem Kollegen, sind wir uns schnell einig, dass das was zu bedeuten hat. Allerdings können wir keine Bewegung unterhalb der Fichte erkennen, obwohl die Sicht relativ frei ist, weil hier vor einigen Jahren Stürme großflächig Fichten umgeworfen haben und die Waldarbeiter reichlich entholzt haben. Andererseits können wir nicht ganz sicher sein, weil immer noch Reste von Deckung vorhanden sind.

Unser Pflichtgefühl hält uns davon ab nachzuschauen. So gehen wir südlich, absolvieren einige Stationen, biegen dann westlich ab und lassen weitere Stationen folgen. Wieder erleben wir einen Raben, der nach unten krächzt. Allerdings kürzer, er fliegt schnell auf, als er uns bemerkt. Ein zweiter Rabe, der nicht weit entfernt in einer Fichte saß, folgt ihm unmittelbar. Wir machen noch eine Station zu Hasenspuren, dann gibt es erst einmal Mittag.

Keine zwanzig Meter hinter unserem Rastplatz stoßen wir auf Luchsspuren. Das wird unsere 16 und letzte Station. Danach wird getrailt, d. h. wir folgen der Fährte. Während die Studenten noch ihre Daten erheben, folge ich der Fährte für 50 Meter entgegen der Laufrichtung. Die Luchsin oder der Kuder kommt die Anhöhe runter, wo der erste Rabe aktiv war.

Nach einigen Metern auf der Fährte in Laufrichtung finden wir Losung. Sie ist nicht gefroren, aber auch nicht warm. Also mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht von derselben Nacht, weil es starken Frost gab. Allerdings sieht die Fährte auch nicht frisch aus, sie sollte, so kommt es mir vor, zumindest einige Stunden alt sein. Aber wir sind schon im Fährtenfieber und folgen ungeduldig den Trittsiegeln.

Raben2Luchslosung

Zusammen auf einer Fährte zu sein, dass macht etwas mit der Gruppe. Jede einzelne Person ist hellwach, sobald eine die Spur verliert, schwärmen die anderen sofort aus und suchen den Anschluss bis eine ruft: „Ich habe sie wieder!“

Unser Luchs kreuzt die Landstraße 537, überquert das Grundstück eines Wochenendhäuschens und betritt eine Kirrung am Ufer des Flusses Belá, die übersät ist mit unzähligen Trittsiegeln unterschiedlichster Tiere. Hier verlieren wir die Fährte trotz ausgiebigen Zirkelns. Zusammen mit einer Studentin gehe ich das Flussufer stromaufwärts und gerade als ich ansagen will, dass wir aufgeben und wieder zurückgehen, hören wir ein tiefes Gebrüll von der anderen Seite des Flusses. Ich bin mir gleich sicher, dass ich so ein Geräusch bei der Bärenbeobachtung in Rumänien gehört habe. Vielleicht zwanzig Sekunden dann hört es auf.

Der Rest der Gruppe hat es auch gehört, wenn auch weniger deutlich, weil sie weiter entfernt waren. Natürlich wollen wir Sicherheit, ob es wirklich ein Bär war. Wir warten eine angemessene Frist und wollen dann den Fluss überqueren. Nur das Wasser ist tief und vor allem eiskalt. So dauert es bestimmt eine halbe Stunde bis ich barfuß auf der anderen Seite ankomme. Mir bleiben nur noch 15 Minuten, bevor ich zurück zum Bus muss, der uns abholt, um erneut zur zirkeln und nach Bärenspuren Ausschau zu halten. Ich finde eine Spechtschmiede, aber keine Anzeichen für einen Braunbären.

Im Bus auf dem Heimweg strahlen alle angesichts des ereignisreichen Tages. Ich auch, aber während der Fahrt wird mir klar, dass ich nicht sorgfältig genug überprüft habe, ob der erste und zweite Rabe wegen des Luchses gewarnt haben. Weder habe ich geprüft, ob die Fährte wirklich an den Bäumen vorbeiführt, in denen die Raben gewarnt haben, noch habe ich mir die Zeit genommen, dass Alter der Trittsiegel und der Losung gewissenhaft abzuwägen. Fehlende Geistesgegenwart, mein Pflichtgefühl gegenüber den Studierenden, unser Fährtenfieber und ein vermutlich brüllender Bär haben mich davon abgehalten. Damit hatte ich die Chance verpasst zu lernen, ob und wie Raben Luchse anzeigen, so wie ich zwei Wochen zuvor verstanden habe, wie Raben einen Kadaver anzeigen.

Eigentlich Gründe genug, um auf sich selbst sauer zu sein, was ich aber nicht bin. Ich bin mir sicher, dass mir sowas beim nächsten Mal nicht noch einmal so passieren wird. Jetzt bin ich für neue Zusammenhänge sensibilisiert, die mir bisher nicht aufgefallen sind. Es ist lediglich eine Frage der Zeit, wann der nächste Kolkrabe im Winter nach unten krächzen wird und dann werde ich hier berichten, was ich darüber rausgefunden habe.