Auf die Schneekoppe 

Nebel, blauer Himmel und dunkle Nacht

 

Jörn Kaufhold / Polen / November 2016

Das Drei-Kulturen-Haus Parada im polnischen Niedamirów liegt im Nebel, als ich zur Schneekoppe aufbreche. Die Besitzer Beata und Grzegorz weisen mir den Weg: „4,5 Stunden hin, zurück geht es schneller“. Dass kann ich schaffen, denke ich, selbst im November. Mit der Sonne raus und in der Dämmerung zurück. 7.30 Uhr bis 16.30 Uhr, 9 Stunden, wenig Pausen unterwegs, aber es müsste reichen, wenn ich schnell gehe.

Hinterm Seminarhaus führt ein alter Zollweg rauf bis zum polnisch-tschechischen Grenzübergang nach Horní Albeřice. Da finde ich die erste von vielen Infotafel, die meistens ja so eine Sache sind, entweder sind sie vollgepackt mit Fachbegriffen, die nur ausgewiesene Experten verstehen oder sie sind so nichtssagend, das Politikerfloskeln dagegen mitreißend wirken. Aber diese Tafeln sollten sich andere Infotafelmacher anschauen, bevor sie loslegen. Bespickt mit spannenden Geschichten heben Sie Historisches und Sehenswürdigkeiten hervor, die einen zweiten Blick spannend machen. Immer wieder schreibe ich mir von ihnen einige Wörter ab, entweder weil ich den Klang mag  (Traghucke, Heubodengaube) oder weil ich sie später nachschlagen möchte (Böhmische Bruderschaft, Drei Zirkelmethode). Am Ende des Tages lesen sich die Wörter wie ein Inhaltsverzeichnis der Wanderung.  

Ich kenne viele Leute, bei denen wird ja das Gesicht ganz lang und miesepetrig, sobald sie nur an den   November denken. Als Monat zum Wandern hat er einen fürchterlichen Ruf. Ich erinnere mich, dass ich mit einem Kumpel mal eine Woche im November in einem slowakischen Bergwald campiert habe. Wir hatten jeden Tag nasse Füße und trockneten unsere Wanderschuhe abends am Lagerfeuer bis sich das Leder wie eine schrumpelige Rosine zusammen gezogen hat. Danach konnte ich mein Paar nur noch in den Mülleimer werfen. Wir haben dort oben so einen dichten Nebel erlebt, dass wir die Wacholderdrosselschwärme über unseren Köpfen nur hören konnten. Meine weiße Schäferhündin Čajka wurde nach einigen Metern komplett verschluckt. Einmal konnte ich buchstäblich meine Hand nicht mehr vor Augen sehen. Es war kalt und nass und oft ungemütlich dort oben, aber die Sinneseindrücke waren so andersartig, so eindringlich, dass sie mir bis heute im Kopf rum gehen.  

Ich mag Nebel. Ich mag wie sich Konturen langsam herausschälen, wenn ich mich annähere. Die Schattenrisse von blätterlosen Bäumen im Nebel. Ich mag Wolken, die in Fetzen über dem Weg treiben. Tiere, die lautlos aus dem großen Grau kommen und wieder verschwinden. Und eins kann der November im Riesengebirge bieten, was so vermutlich in keinem anderen Monat möglich ist: lange Wegstrecken ganz allein. 

 

Durch das Hufendorf Horní Albeřice laufe ich nordwärts auf der asphaltierten Dorfstraße vorbei an einer zum Kauf angebotenen Bergbaude, um beim Wegpunkt Cestnik auf den blauen Wanderweg abzubiegen. Hier durchbohren die ersten Sonnenstrahlen die Nebelfront. Bei der ersten Möglichkeit biege ich auf den grünen Wanderweg ab und durchquere das Dorf  Špindlerův Mlýn. Am Dorfende führte der Finkenweg links den Berg auf. Rechter Hand öffnet sich ein Blick auf den gegenüberliegenden Hang, auf dem denkmalgeschützte Berghäuser stehen.  Typisch für die Bauweise im Riesengebirge sind der mittig Vorsprung (der sogenannte Risalit), der die Fassade gliedert, sowie die geschwungenen Heubodengauben.

Links von den Häusern hat sich der Hirschbach in den Berghang gefressen. Das ist der sogenannte Löwengrund, in dem, so eine der detailreichen Infotafeln, auch schon mal geschossen wurde. Nachdem Preußen sich 1742 große Teile von Schlesien von den Habsburgern einverleibt hat, entstanden auf beiden Seiten des Riesengebirgskamms Märkte mit unterschiedlichen Preisen. Die Leute im Gebirge,  die eh nicht zu den Wohlhabenden zählten, haben das genützt, in dem sie sich ihre Holzhucken auf den Rücken schnallten und nach Schlesien Butter und Käse transportiert haben; auf dem Rückweg hatten sie dann Tabak, Alkohol und Petroleum dabei. Die Obrigkeit schickte sogenannte Finanzwächter ins Gebirge, die das unterbinden sollten, notfalls mit Waffengewalt. So wie Ostern 1919, wo sie Stephan Brauns Spur im Neuschnee verfolgten, ihm im Löwengrund auflauerten und auf ihn 18 Mal schossen. Stephan Braun entkam und wurde bewusstlos in der Nähe seines Dorfes mit einem Lungenschuss aufgefunden. Ein herbeigerufener Chirurg – ein „Wochenendler“ aus Breslau – operierte ihn und rettete sein Leben. Die Finanzwacht hat nie erfahren auf wen sie da wegen einer Hucke voll Waren geschossen hat. 

Gut das es heute friedlicher zugeht. Mich führt der gelbe Weg bergauf und über die Wolken. Die Schneekoppe prangt vor blauem Himmel. Je höher ich aufsteige, desto mehr erblicke ich wolkengefüllte Täler. Ich blinzle und kneife die Augen zusammen, zu viel Helligkeit nach Stunden im dichten Nebel. 

 

Stufen führen nach oben auf die Schneekoppe, was mühsam ist, da sich nicht der gewohnte meditative Bergtritt einstellen will. Die Stufen sind einige Zentimeter höher als gewöhnt, die Abstände unregelmäßig. Warum, so grummle ich, muss man sowas in den Berg bauen. Ich bin nicht der Einzige, dem das nicht gefällt, denn da wo es fehlende Einzäunung möglich macht, verlaufen Trampelpfade nebenher. Der Weg wirkt wie eine Wanderautobahn, über die Massen pilgern. Auf den metallischen Stufeneinfassungen kleben Aufkleber von Wanderklubs und – ich runzel die Stirn – Plastiksticker mit politischen Parolen. Ich lese „Fuck ISIS“ und auf Deutsch „Schütze Deine Heimat“ mit einer Website, auf der sich eine Gruppe von jungen finster drein blickenden Menschen vor Umvolkung fürchten.  Das regt mich so auf, dass ich die Parolen ab knibble. Fängt so ein Blödsinn jetzt auch schon in den Bergen an? Wenn solche Leute sich fürchten wollen, dann sollen sie sich fürchten und wenn sie sich unbedingt nationalsozialistischer Sprache bedienen wollen, dann kann ich daran nichts ändern. Aber damit auch noch die Natur vollkleistern – das ist zu viel! Das ist  Umweltverschmutzung, gedanklich wie tatsächlich.  

 

Oben pustet frischherber Gipfelwind jegliche Verstimmungen wieder weg. Der Gipfel ist zweigeteilt, so trinke ich einen heißen Tee in Tschechien und genieße das Panorama in Polen. Vier Stunden hätte ich laut Beata bis aus den Gipfel brauchen sollen, ich habe sechs gebraucht. Deswegen laufe ich schnell weiter, den polnischen-tschechischen Freundschaftsweg entlang. „Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein …“ ohrwurmt es in meinem Schädel angesichts der Wolkenbänke unter mir.  

In der Abenddämmerung komme ich an der Pomezní Bouda oberhalb von Horní Mála Ùpa aus, wieder mitten im Nebel. Das ist die letzte Asphaltstraße. Ich muss mich entscheiden, entweder zweieinhalb Stunden über den Grenzweg oder ein Taxi rufen. Ich checke meine Stirnlampe. Die Batterien sind frisch. Ich will es wagen und laufe los. 

Nach einer halben Stunde laufe ich durch finstere Nacht, die noch vom Nebel gesättigt wird. Der Lichtkegel meiner Stirnlampe erreicht kaum den Boden zwei drei Meter vor meinen Füßen und das nur, wenn ich sie hüfthoch halte. Nach einer Stunde überwältigt mich der Gedanke, dass mein Wohl von einer kleinen Leuchtdiode abhängt. Fällt dieses kleine elektrische Ding aus, stecke ich fest. Der Weg ist im Dunkeln nicht begehbar. Ich verlangsame mein langsames Tempo noch einmal und halte meine Lampe so, dass sie bei einem Sturz nicht zu Schaden kommt. Glücklicherweise tauchen in regelmäßigen Abständen weiße Grenzsteine auf, so dass ich regelmäßig bestätigt werde auf dem richtigen Weg zu sein. 

Nach anderthalb Stunden mache ich eine Pause und lösche die Lampe, um Batterien zu sparen. Ich sehe nichts, auch nachdem sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben. Auch höre ich nichts. Kein Wind in den Bäumen, keine entfernten Geräusche von Autos oder Flugzeugen, es fallen keine Wassertropfen. Wenn ich nicht atme ist es still. Das ist großartig. Und beängstigend.

Nach zwei Stunden lasse ich den Lichtkegel hin und her schweifen, damit ich nicht den Abzweig am Grenzübergang verpasse, ansonsten würde ich noch Stunden durch die Dunkelheit laufen. Der ist allerdings leicht gefunden, weil der Weg direkt auf die Schutzhütte zuführt. So biege ich ab und sehe nach zweiundhalb Stunden den ersten Lichtschimmer vom Drei-Kulturen-Haus Parada. 

Vor dem Haus setze ich mich hin und schaue aufs GPS. Insgesamt war ich 11 Stunden unterwegs, in 8 Stunden reiner Laufzeit bin ich rund 33 Kilometern mit 2.300 Höhenmetern gelaufen. 

Im Haus entdecke ich (nach einem kräftigen Abendessen) Zeitungsausschnitte von dem Grenzübergang zwischen Niedamirów nach Horní Albeřice, an dem ich morgens und abends vorbei gekommen bin. Auf den Fotos von 1996 sieht man lachende Gesichter, die sich über die grüne Grenze hinweg die Hände geben, die sie nicht überqueren durften. Beate und Grzegorz haben zusammen mit tschechischen Mitstreitern wie Mauerspechte geholfen, damit der Grenzübergang von den Behörden 2003 offiziell für Touristen freigegeben wurde. Ich hoffe, dass er noch sehr lange offen sein wird.